STEFAN PRINS (DE)

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Musikalische Phantomatik. Die hybride, multidimensionale Welt des belgischen Komponisten Stefan Prins

»Unser Gehirn ist noch nicht der sich entwickelten Situation angepasst, zwischen dem Realen und dem Virtuellen zu unterscheiden. Nehmen wir Second Life: Menschen übertragen Emotionen auf virtuelle Personen, als ob sie wirklich leben würden. Unser Gehirn wurde nie in dieser Richtung trainiert, deshalb ist es so schwierig, zwischen der virtuellen Welt der Computerspiele und tatsächlichen  Kriegsarenen zu unterscheiden. Daher ist es so faszinierend für mich, physische Präsenz der Musiker auf der Bühne mit Elementen der virtuellen Technologie zu erzeugen oder analoge und elektronische Klänge zu mischen.«[1]

Das sechste Kapitel von Stanisław Lems Buch Summa technologiae (1964) das seine philosophischen Essays enthält, hat den Titel Phantomologie. Darin hat der polnische Science-Fiction-Autor vor einem halben Jahrhundert einen Begriff dafür erfunden, was wir heute als virtuelle Realität kennen. Überlegungen zur menschlichen Wahrnehmung und ihren Grenzen haben Lem zu der Schlussfolgerung geführt, dass die Menschen versuchen werden, diese Grenzen zu überwinden, indem sie eine Nachahmung von imaginären Räumen schaffen.

Die Technologie, eine Realität für darin lebende Denkwesen zu kreieren, die von normalen Realitäten kaum zu unterscheiden ist[2] hat Lem »Phantomatik« genannt und deren Wissenschaft »Phantomologie«.

Was vor mehr als einem halben Jahrhundert in die Welt der Fantasie gehörte ist heute Wirklichkeit geworden. Dieses Jahr kommt die erste Virtual Reality-Brille für lediglich 899 € auf den Markt, die Teleportation zu parallelen Universen ermöglichen soll. Die Experten sagen, dass dies nur der Anfang sei. Und die Frage, ob wir in Zukunft in den phantomatischen Strukturen leben werden, stellen heute nicht nur Künstler, sondern auch Forscher.

Das Thema des Phantoms, der virtuellen Realität, der digitalen Prothesen und Hyperkörper interessiert seit langem den belgischen Komponist Stefan Prins. Er nutzt die neuen Medien – Elektronik und Video-Projektion – um eine musikalische Situation zu arrangieren, in der die Grenzen zwischen der realen und virtuellen Klangwelt unscharf werden. Es geht um die Grenzen sowohl zwischen dem akustischen und elektronischen Klang, als auch zwischen dem Bild und dem Ton oder zwischen einem Live-Performer auf der Bühne und seinem virtuellen Avatar. Die Sinne der Zuhörer  sind in seinen Kompositionen dem permanenten Betrug ausgesetzt.

Hyperkörper

Einer der Pioniere der medienwissenschaftlichen Forschung, Marshall McLuhan, wies bereits vor vielen Jahren darauf hin, dass durch die Medien  Prothesen für unsere Sinne geschaffen werden. Beispiele für solcherart »Medien-Prothese« sind Telefon, Fernsehen oder Auto. Heute tritt der Prozess der Verlängerung unseres Körpers in eine virtuelle Ära ein, die entwickelt und zunehmend genutzt wird, unter anderem, in den Computerspielen.

Stefan Prins’ Komposition Generation Kill (2012) für vier Instrumentalisten, vier Konsolenspieler, Elektronik und Video-Projektion, basiert auf der Architektur des Computerspiels. Gegenüber der Musiker, die nicht mit Instrumenten, sondern mit Play Station 3 Konsolen ausgestattet sind, befinden sich vier transparente Bildschirme, hinter denen vier Musiker mit Instrumenten sitzen. Durch Drücken der Knöpfe und Bewegen der Hände steuern die mit solcherart Konsolen ausgestatteten Musiker viele Parametern der Musik, die live in ein Bild übersetzt werden. Während des Spiels werden auf den Bildschirmen Avatare der Musiker projiziert, die mit realen Instrumentalisten optisch und akustisch interagieren. Daraus ergibt sich eine permanente, multidimensionale Spaltung und Integration, die für die Musik von Prins typisch ist.

Die Komposition Generation Kill zeigt, wie die Welt durch die digitale Generation, die »digital natives« erlebt wird. Wir beobachten, wie sich die materielle und virtuelle Körperlichkeit der Musiker vereinigt und wie der reale Körper des Musikers in die virtuelle Realität des Computerspiels einzieht. Der Musiker tritt in die fiktive Welt, die er direkt beeinflussen kann ein, die durch solche Interaktivität realer wird. Als Computerspieler verschmelzen die Musiker in den Werken von Prins ebenso mit der Spielwelt wie sie einen neuen Körper gewinnen, der im virtuellen Raum tatsächlich existiert. Es entsteht ein multidimensionaler, multiplizierter und entgrenzter Körper. Ein Körper, der als eine besondere Form von Hyperkörper an zwei Stellen zugleich sein kann.

Digitale Prothese

Die Problematik des Hyperkörpers thematisiert Stefan Prins in einer ganzen Serie: Flesh+Prosthesis #0-2 für Saxophon, Schlagzeug, elektrische Gitarre, Klavier und 4-Kanal Elektronik  (2013-2014). Der Komponist hat die Performer mit »digitalen Prothesen« ausgestattet, das heißt, der Musiker kann aufgenommene Klänge live gestalten, sie umformen, in der Zeit umdrehen, filtern, sie »einfrieren« und »un-natürliche« Nachklänge insofern verursachen, als er über die Möglichkeit verfügt, über Laptop, der zum Beispiel mit einem Pedal-System verbunden ist, ein Audio-Programm zu steuern.

Der Keim der Serie Flesh+Prosthesis ist das elektronisches 8-Kanal Stück Hybrid (2012). Das Klangmaterial stammt von Geigenklängen, die während der Proben aufgenommen und im Studio transformiert wurden, so dass sie manchmal deutlich und hörbar sind, manchmal in elektronische Klänge eingeschmolzen werden. Ein Fragment dieses hybriden, akustisch-elektroakustischen Stückes wurde anschließend entnommen und Flesh+Prosthesis #0 genannt. Der nächste Teil der Serie, Flesh+Prosthesis #1, erweitert die Idee des Hybrids durch rein akustische Instrumente, mit denen Musiker auf der Bühne erscheinen, und ist bereits ein musikalischer Hyperhybrid. Flesh+Prothesis #2 zeigt wiederum, wie sich der musikalische Hybridkörper benimmt, wenn man ihm ein organisches Glied abnimmt, nämlich die Elektronik. Es bleibt ein symbolischer leerer Raum, der nicht weniger bedeutsam ist als das, was ihn ausfüllte.

Um so organischer die Verbindung von Instrumenten (Flesh) und Elektronik (Prosthesis) ist, umso stärker empfindet man das Fehlen irgend eines Gliedes. Ähnlich, wie menschliche Wahrnehmung funktioniert, täuscht Prins den Hörer durch einen imaginären, fehlenden Raum, der tatsächlich zu einer Bühne wird, auf der er seine Musik spielt – eine virtuelle Projektion der fehlenden Glieder.

Phantom

In der Komposition Mirror Box Extension (2015) für Ensemble, Live-Elektronik und Video, wird die Hybridisierung von Instrument/Körper plus Elektronik/Prothese, durch das Element der Wahrnehmung erweitert, und zwar dadurch, wie der Körper seine Umwelt und sich selbst wahrnimmt. Das Stück wird durch zwei andere Stücke eingeleitet: durch Mirror Box (Flesh+Prothesis #3) für Saxophon, Schlagzeug, Klavier und Live-Elektronik von 2014 und durch die Studie for Mirror Box für 4-Kanal-Elektronik, ebenfalls von 2014. Mirror Box Extension ist nicht bloß eine einfache Erweiterung oder Bearbeitung dieser Kompositionen, sondern eine Entwicklung von thematischen und konzeptionellen Ideen über das Phantom.

Instrumentalisten erscheinen auf der Bühne und verschwinden. Ihre Bilder multiplizieren sich, werden gespalten und überlappen sich. Mit Hilfe einer Reihe mobiler, transparenter Vorhänge, die als Bildschirme für Videoprojektion dienen und wie Bilder reflektierende Spiegel aussehen, hat Prins eine Transitivität zwischen zwei Welten geschaffen: der realen und der virtuellen Welt. Außerdem werden die Musiker gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven gezeigt, als Nahaufnahme oder aus der Distanz. Diesen Effekt verstärkt die Musik, wenn Töne live gespielt werden und ständig mit Elektronik verschmelzen, die wiederum selbst auf den Instrumentalklängen basiert. Die Aufspaltung eines Musikerabbilds begleitet die Aufspaltung seines Instrumentalklangs. Das Ganze vollzieht sich sehr organisch und es ist schwierig, einzelne Komponenten der klingenden Schicht zu extrahieren, die die Wirkung der virtuellen Realität simuliert.

Prins spielt in seiner Musik mit Wahrnehmungsphänomenen des Hörers, worauf bereits Titel der Komposition hinweist. Die Mirror Box, ein pseudo-medizinisches Gerät, dient der Spiegeltherapie gegen Phantomschmerzen. Für die Behandlung von Schmerzen nach der Amputation verwendet man einen speziellen Spiegel, der das amputierte Glied bedeckt und das gesunde reflektiert. Der Patient betritt die Welt der Illusion. Mit seinem mentalen Engagement in dieser Illusion ist er in der Lage, sein Gehirn zu täuschen, das die visuell falsche Information für die wahre nimmt. Er leidet nicht mehr. Mirror Box ist also auch eine Art von »Phantomatik«, Archäologie der Virtualität.

In unserer Welt, in der das Physikalische und das Virtuelle koexistieren, verlieren  die alten Begriffe von Realität oder live-Ereignis an Bedeutung. In seinem Kommentar zu Mirror Box Extension erwähnt Stefan Prins die Gruppe Holograms for Freedom, die im April 2015 durch eine virtuelle Demonstration vor dem spanischen Parlament in Madrid gegen das umstrittene »Bürgersicherheitsgesetz« protestierte, denn dieses verbietet Versammlungen vor Regierungsgebäuden. So schufen die Demonstranten ein Hologramm und umgingen so die mögliche Verhaftung. Mit der Inszenierung einer Art von Spiegelkabinett in Mirror Box Extension, in dem sich Musiker und Publikum gleichermaßen verlieren, oder mit dem Schaffen von musikalischen Hyperkörpern in Flesh+Prosthesis und Generation Kill, setzt Stefan Prins alte Regeln des Verstehens der Welt außer Kraft und zeigt, wie sich die neue hybrid erweiterte, multidimensionale Realität in Kunst und Leben manifestiert haben.

[1] Stefan Prins im Interview mit der Autorin, Ruch Muzyczny, 15/2013.

[2] Stanisław Lem, Phantomologie in: Summa technologiae, Wydawnictwo Literackie, Kraków 1964 (Übersetzung die Autorin).

Quelle: „Positionen” 107/2016

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